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Equine Complex Vertebral Malformation (ECVM)

07.06.2023

Wenn Pferde plötzlich unrittig werden, vermehrt stolpern oder sogar stürzen, sind Koordinationsstörungen, die in Folge von Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule auftreten, eine mögliche Ursache. Speziell Fehlbildungen im Bereich der unteren Halswirbelsäule haben das Potenzial, klinische Erscheinungen, d. h. Auffälligkeiten, die ohne weitere diagnostische Hilfsmittel festzustellen sind, auszulösen. Aus diesem Grund wird in Pferdekreisen aktuell intensiv über ECVM (Equine Complex Vertebral Malformation) diskutiert.

Die im Rahmen dieser Erkrankung auftretenden Deformationen der Wirbel der unteren Halswirbelsäule des Pferdes betreffen im Wesentlichen den sechsten und siebten Halswirbel. Die Veränderungen umfassen das ein- oder beidseitige Fehlen des Knochenfortsatzes an der Unterseite des sechsten Halswirbels, welches teilweise mit einer strukturellen Umbildung des siebten Halswirbels sowie der ersten Rippe einhergeht.

Aufgrund der immer häufiger und umfassender zur Anwendung kommenden röntgenologischen Untersuchungen von Pferden liegen auch immer mehr Daten zu Befunden an der (Hals-)Wirbelsäule vor. Die Einordnung dieser Befunde in Bezug auf Ursachen, Einflussfaktoren und die klinische Relevanz fällt oft schwer. Sowohl die Tierärzteschaft als auch die Pferdezucht wollen den Zusammenhang zwischen dem Auftreten der ECVM und einer klinischen Symptomatik sowie eine mögliche Vererbbarkeit aufdecken. Wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse werden benötigt, um auf solider Basis über veterinärmedizinische und züchterische Maßnahmen nachhaltig entscheiden zu können.

Einordnung der Erkrankung

Bei der ECVM handelt es sich keineswegs um eine neue Erkrankung, die erstmals beim modernen Reit- und Sportpferd auftrat. Vielmehr wurden solch strukturelle Veränderungen der unteren Halswirbelsäule des Pferdes bereits vor vielen Jahrzehnten beschrieben und sind durch in Museen ausgestellte Pferdeskelette und Fallberichte zu Sektionsbefunden belegt. Auch und gerade für das Englische Vollblut sind solche Variationen an der Halswirbelsäule dokumentiert. Die meisten veröffentlichten Ergebnisse beziehen sich auf diese Rasse.

Vor allem bei den heutzutage größtenteils sportlich genutzten Pferden spielen die Strukturen der unteren Halswirbelsäule eine wortwörtlich tragende Rolle. Sie dienen als Ansatzstelle für Bänder und Muskulatur der Vorhand, zu welchen wichtige Rumpf- und Gliedmaßenträger zählen. Zum jetzigen Zeitpunkt ungeklärt ist jedoch der funktionelle Zusammenhang zwischen der am Skelett erkennbaren beziehungsweise röntgenologisch darstellbaren Veränderung und der klinischen Auffälligkeit des betroffenen Pferdes.

Bisherige Studien konnten keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen strukturellen Veränderungen der unteren Halswirbelsäule und dem Auftreten von ohne diagnostische Hilfsmittel erkennbaren Symptomen feststellen. Dem stehen Berichte und Erfahrungen aus der Praxis gegenüber, dass Pferde mit Problemen in der Rittigkeit und im Bewegungsablauf auch röntgenologische Befunde im Sinne von ECVM aufweisen. Das spricht dafür, dass ein gewisses Maß an Variation in der Ausformung der Halswirbel normal und unproblematisch ist, im Einzelfall aber auch ein Erkrankungswert gegeben sein kann. Diesen Erkrankungswert festzustellen bzw. die ihn ausmachenden Kriterien zu ermitteln, ist als dringender Forschungsgegenstand anzusehen, der gezielter und umfassender Bearbeitung bedarf.

Obwohl bekannt ist, dass die beschriebenen Veränderungen der Halswirbelsäule angeboren sind, ist bisher unklar, in welchem Maße sie erblich bedingt sind und wie viel Variation, gerade auch in Bezug auf die mögliche klinische Relevanz, sich durch Umwelteinflüsse wie z. B. Fütterung der Mutterstute während der Trächtigkeit, Bewegungsmanagement des Fohlens oder später Reiten und Training ergibt. Unbekannt ist aktuell dementsprechend auch, wie viele und welche Gene beziehungsweise Genvarianten dieses Merkmal maßgeblich beeinflussen. Bei der wissenschaftlichen Beantwortung dieser drängenden Fragen müssen Tiermedizin, Tierzucht und Forschung eng zusammenarbeiten.